Robert Walsers Biel Français

1. Kinderstube

Nidaugasse 36, Früheres Wohnhaus

Aus: Geschwister Tanner, gelesen von Isabelle Freymond

Ich lernte schon früh, mich schönen Erinnerungen mit Leidenschaft hinzugeben. Ich sah wieder das hohe Haus, worin die Eltern ein reizendes Galanteriewarengeschäft hatten, wo viele Menschen zu uns hineinkamen, um zu kaufen, wo wir Kinder eine helle, grosse Kinderstube besassen, in welche die Sonne mit einer Art von Vorliebe hineinzuscheinen schien. Dicht neben unserem hohen Hause kauerte ein kleines, schräges, zerdrücktes, uraltes Haus mit einem spitzigen Giebeldach, darin wohnte eine Witwe. Sie hatte einen Hutladen, einen Sohn und eine Verwandte und, ich glaube, noch einen Hund, wenn ich mich recht erinnere. Wenn man zu ihr in den Laden trat, begrüsste sie einen so freundlich, dass man das blosse dieser Dame Gegenüberstehen als einen Wohlgenuss empfand. Sie presste einem dann verschiedene Hüte auf den Kopf, führte einen vor den Spiegel und lächelte dazu. […] Dicht daneben, das heisst, dicht neben dem Hutladen, glitzerte und lockte eine schneeweisse Konditorei, eine Zuckerbäckerei. Die Zuckerbäckersfrau schien uns ein Engel zu sein, nicht eine Frau. Sie hatte das zarteste, ovalste Gesicht, das man sich denken kann; die Güte und die Reinheit schienen diesem Gesicht die Form gegeben zu haben. [ …] Die ganze Frau schien wie geschaffen dazu, Süssigkeiten zu verkaufen, Sachen und Sächelchen, die man nur mit Nadelspitzenfingern anrühren durfte, wenn man ihnen den köstlichen Geschmack nicht rauben wollte. Das war auch eine Freundin meiner Mutter. Sie hatte viele Freundinnen.